Themenfeld 2: Recht und Wirtschaft (2018-2020)

Die im Rahmen von „Recht als Kultur“ angelegte Perspektive fragt dezidiert nach jenen kulturellen Ideen und Mächten, die bei der Herausbildung von Normvorstellungen und Regelsystemen in den Regionalkulturen der Welt wirksam sind. Danach ist auch eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den normativen und auch – man denke an gesellschaftliche Solidaritätsressourcen oder die Durkheim’sche Frage nach der Vertragsbindung – emotiven Grundlagen und Grenzen wirtschaftlichen Handelns ohne Berücksichtigung rechtlicher, politischer und religiöser Voraussetzungen gar nicht durchführbar. „Recht als Kultur“ tritt dabei in eine komplexe Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen Sphäre, da Recht nicht allein unter dem Blickwinkel der rationales Wirtschaftshandeln limitierenden Randbedingungen zu analysieren ist. Auch die Ökonomie aber ist nicht lediglich als System von Zahlungsströmen verständlich zu machen, sondern kennt ebenfalls eine eigene symbolisch-rituelle Wirklichkeit und spezifische Orte und Zeiten des Wirtschaftshandelns (von Bankentempeln bis hin zu virtualisierten Börsen). Es scheint vielmehr sinnvoll, in der idealtypischen Betrachtung der Wirtschaftskulturen an religiöse Deutungen des Handelns und ihre nichtintendierten Strukturfolgen zu erinnern.
Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Teilrationalitäten indiziert bereits eine Reihe von Fragen, die die Differenzierung bzw. Verflechtung von Recht und Wirtschaft betreffen. Wenn wir zum Beispiel nach der legitimen Ausdehnung der Logik des Marktes fragen und Recht als Grenzziehung einer hemmungslosen Marktgesetzlichkeit verstehen wollten, dann zeigt sich, dass die Marktfähigkeit von Gütern und Werten (values) nicht außerhalb eines zivilisatorischen Kontextes zu denken ist: Das Verbot der Zinsnahme im jüdischen und islamischen Diskurs einer Wirtschaftsethik ist ein klassisches Beispiel. Ob Warteschlangen mit Geld zu überspringen sind, Arzttermine käuflich sein sollten, mit Blut, menschlichen Keimzellen oder Organen Handel getrieben werden darf, der Wertverfall von Wertpapieren monetarisierbar ist, usw.: Gegenmittel und Grenzziehungsnormierungen sind in kulturelle Kontexte eingebunden, die im Lichte der Codierung des jeweiligen Differenzierungsprogramms einer Gesellschaft zu entschlüsseln sind. Kulturell wie historisch variabel sind etwa die Vorstellungen darüber, in welchem Umfang das Recht die wirtschaftliche Sphäre regulieren soll (bzw. darf), wie in der gegenwärtigen Debatte über die Legitimität einer Schiedsgerichtsbarkeit deutlich wird, die neben die genuin staatlichen Rechtsorgane treten könnte. Bereits im Vergleich US-amerikanischer und deutscher Haltungen zeigen sich hier gravierende Differenzen, wofür die Diskussion um das Freihandelsabkommen TTIP nachhaltig sensibilisiert hat.
Nicht zuletzt die globalen Ungleichzeitigkeiten in der rechtlichen Reglementierung und Einhegung ökonomischer Prozesse verweisen dabei unmittelbar auf die Bedeutung von Menschenrechten. Im internationalen Wirtschaftsrecht hat deren Achtung im Hinblick auf internationale Unternehmen etwa durch Verhaltenskodizes und staatliche Überwachungsstellen eine neue Dimension gewonnen („corporate social responsibility“). Zur Durchsetzung werden vermehrt (neo-)klassische Instrumente des Internationalen Privatrechts eingesetzt, indem Normen, die Menschenrechte schützen oder verwirklichen, als international zwingend (Eingriffsnormen, lois de police) qualifiziert werden, die ein nationales oder transnationales Gericht unabhängig vom anwendbaren Recht stets zu beachten hat. Die Schranke des ordre public wird eingesetzt, um die Vollstreckung von staatlichen oder schiedsgerichtlichen Entscheidungen zu verhindern, die diese Standards unterlaufen. Hinzu treten subtilere Steuerungsinstrumente: Die Parteiautonomie als Verkörperung der menschenrechtlich gewährleisteten Freiheit des Einzelnen wird gestärkt, aber zum Schutze Dritter auch eingeschränkt. International agierenden Unternehmen wird abverlangt, dass sie nicht nur selbst bestimmte Standards, etwa bezogen auf Umwelt- und Artenschutz oder das Verbot von Kinderarbeit und Korruption, einhalten, sondern dass sie die Einhaltung dieser Standards auch von ihren Vertrags- und Subvertragspartnern weltweit einfordern.
Wirtschaftliche Zwänge (wie die Konditionalität für Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds und der Euro-Staaten) und Entwicklungen im internationalen Handelsrecht werden als Bedrohungen für soziale Standards gedeutet. Umgekehrt fungiert die zulässige Berufung auf „public morals“ im Welthandelsrecht als Vehikel zum Schutz (rechts-)kultureller Vorstellungen und damit eines rechtskulturellen Pluralismus. Minderheitenrechte etwa für indigene Gemeinschaften bringen beispielsweise bei Abbau von Bodenschätzen eine beachtliche Verschiebung politischer und wirtschaftlicher Teilhabe. Die Debatte um den Schutz von intellectual property rights wiederum kreist nicht zuletzt auch um Probleme der Abwägung konkurrierender privatautonomer Handlungsspielräume, die längst nicht mehr unabhängig von kulturell eingefärbten und entsprechend variierenden Konzepten wie Eigentum oder Autorschaft (aber auch Freiheit und eben Autonomie) diskutiert werden können.
Eine der zentralen Funktionen von Herrschaft in Marktordnungen besteht nun in der Festlegung von Regeln des Tausches bis hin zur Schaffung und Garantie von Währungen. Die klassischen liberalen Figuren von Privatautonomie und Vertragsfreiheit mögen von der abstrakt-formalen Gleichheit der Vertragspartner ausgehen und von einer Vertragsinstitution, die zunächst nur unter den beteiligten Parteien Anerkennung herstellen muss. Aber bereits unter basalen Ungleichheitsbedingungen entstehen Vertragsformen, die zur Anerkennung zwingen, weil sie auf einer Asymmetrie der Vertragspartner beruhen. Auch wenn sie damit fundamentale Fairnessnormen und Gerechtigkeitsgefühle verletzen mögen, kann allerdings ihre Nicht-Unterzeichnung zum Ausschluss von ganzen Lebensbereichen führen (man denke nur an die AGB der großen IT-Dienstleister). Zu den Themenfeldern, die in diesem Bereich erschlossen werden sollen, zählt entsprechend die Frage, wie formal horizontales Vertragsrecht jenseits der klassischen ‚nationalstaatlich‘ geprägten Geltungskulturen in globalem Maßstab Geltung erlangen kann. Nicht minder bedeutsam ist im Umkehrschluss aber auch die Frage nach der Bindung transnational agierender Konzerne (mit z. T. monopolartiger Stellung) an nationale oder eben alternative Rechtsnormen. Wo rechtliche Regelungen als Behinderungen für den Weltwirtschaftsverkehr wahrgenommen wurden, haben sich Firmen und Konzerne zunehmend über privatrechtliche Verträge eigenständige, verbindlich geltende Normen geschaffen, die in ein institutionelles Geflecht von nicht-staatlichen Schiedsgerichten und quasi-legislativen Organen eingebunden sind. Dadurch entsteht einerseits eine paradoxe Selbstvalidierung des Vertrags (Gunther Teubner), andererseits eine Konkurrenz von öffentlichen und privaten Instanzen der Rechtssetzung und Rechtsprechung.